Lebens langes Lernen
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Lernen, nur nicht aufhören zu lernen
Ausblicke auf die Demenzgesellschaft – am Beispiel Japan. Von Florian Coulmas
Im Kindergarten an der Ecke spielen die 130-Jährigen von morgen. Uns auszumalen, was das bedeutet, überfordert unsere Phantasie, da langfristige Antizipation für unsere Spezies keinen besonderen Evolutionsvorteil bot. Die Alterung macht es heute aber unabdingbar, die ganze Lebensplanung zu revidieren.
Shigeaki Hinohara glaubt an lebenslanges Lernen. Von Beruf Arzt, stand er vor zwei Jahren zum ersten Mal auf der Bühne, um an einem Musical mitzuwirken. Aus der Routine aussteigen und einmal etwas ganz anderes machen ist eine Herausforderung, die anregend wirkt. Nicht, dass Herr Hinohara die Langeweile der Routine fürchten müsste. Neben seiner Arbeit im St.-lukaskrankenhaus in Tokio, das er gründete und zu einem der besten der Stadt machte und wo er noch immer Patienten behandelt, hat er mehr als ein Dutzend Posten in Stiftungsräten und Nonprofitorganisationen inne, schreibt Bücher und hält Vorträge – über das Lernen, das gesunde Leben, das von Krankheit bedrohte Leben, Pflege, Genesung, Kunst und Gott und die Welt.
Für eine Nebentätigkeit ist seine Schreibe recht erfolgreich. Von seinem 2007 erschienenen Buch 'Vom guten Leben' wurden 1,2 Millionen Exemplare verkauft. Und das ist nur eins von über zwanzig Büchern, die er seit Beginn des Jahrhunderts – dieses Jahrhunderts! – herausgebracht hat. 2002 erschien von ihm 'Memento Mori. Über den Tod'. Aber das ist lange vergessen. Inzwischen hat er sich wieder fröhlicheren Themen zugewandt. Zu seinem 100. Geburtstag voriges Jahr veröffentlichte er ein Buch 'Über die Freude an der Kunst'.
Es ist nie zu spät
Lebenslanges Lernen ist eines der Prinzipien, die Hinohara propagiert und verkörpert, davon überzeugt, dass das Leben durch Lernen nicht nur reicher, sondern auch besser und länger wird. Wer würde ihm widersprechen?! Nicht nur für das Leben, sondern auch vom Leben lernen zu gestalten und sich gleichzeitig dem, was kommt, überlassen ist ein Grundsatz seiner Lebensphilosophie. Es ist nie zu spät. Auf dem Weg zu einem Ärztekongress sass er 1970 in dem Japan-Airlines-Flug 351 von Tokio nach Fukuoka. Das Flugzeug wurde von Mitgliedern der japanischen Rote-Armee-Fraktion gekapert. Die umsichtigen Entführer hatten für die 129 Geiseln etwas zu lesen mit an Bord gebracht, Lenins gesammelte
Schriften sowie die von Kim Il Sung und – ein wenig überraschend – auch etwas von Dostojewski. Hinohara entschied sich für 'Die Brüder Karamasow' des grossen russischen Romanciers. Er war nach eigener Auskunft der Einzige, der auf dem Angstflug über Fukuoka und Seoul nach Pjongjang las. Man kann ja nie wissen.
Herr Hinohara ist ein fröhlicher Mensch, ein Optimist, der nichts davon hält, die Hände in den Schoss zu legen oder vorzeitig aufzugeben. Als Arzt ist ihm der Tod nicht fremd, und viele seiner Schriften handeln davon, wie man ihn als Teil des Lebens akzeptiert. Er weiss, dass es nicht nur darauf ankommt, ihn hinauszuzögern. Ihm selber ist das allerdings gelungen und mit ihm vielen anderen Japanern. Im Laufe des 20. Jahrhunderts konnten sie ihre Lebenserwartung, so unglaublich es erscheinen mag, verdoppeln. In anderen Industrieländern geht die Tendenz in dieselbe Richtung, aber die Geschwindigkeit, mit der sich das in Japan vollzog, ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Mit Hinohara konnten 2011 ungefähr 40 000 Japaner ihren 100. Geburtstag feiern. Vor einer Generation war die Zahl solcher Jubilare noch dreistellig. Dass die Japaner den Tod innerhalb eines kurzen Jahrhunderts um Jahrzehnte aufgeschoben haben, ist Beweis der sehr erfolgreichen Ausnutzung technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften, eines guten Gesundheitssystems und einer im grossen und Ganzen gut funktionierenden und auch geistig gesunden Gesellschaft. Die demografischen Verschiebungen, die mit der Alterung einhergehen, zwingen diese erfolgreiche Gesellschaft dennoch zu enormen Anpassungen.
Eine Volkskrankheit
Nicht allen Hochbetagten geht es so gut wie Herrn Hinohara; auch das weiss er sehr genau. Eines seiner Bücher heisst: '100 Ratschläge: Bis 100 ohne Demenz'. Der Leserkreis ist gross, denn wie in allen Industrieländern nimmt die Zahl der neurodegenerativen Erkrankungen rapide zu. Früher starben die Menschen an Infektionskrankheiten oder Altersschwäche, bevor Altersdemenz sie der Fähigkeiten beraubte, deren es für ein selbständiges Leben bedarf. Die grossen Fortschritte in der allgemeinen Hygiene und der molekularen Medizin und die Langlebigkeit, die sie nach sich zogen, haben jedoch aus Demenz eine Volkskrankheit werden lassen. In Japan allein wird die Zahl der unter Alzheimer und anderen neurodegenerativen Krankheiten Leidenden derzeit auf 1,7 Millionen geschätzt. Bis 2020 soll sie nach Hochrechnungen der japanischen Alzheimer-Gesellschaft auf 3,3 Millionen ansteigen. In Ostasien gilt hohes Alter traditionell als Glück, doch durch die rapide Zunahme des Demenzrisikos wird diese sprichwörtliche Assoziation in Frage gestellt. Wer wird die an Altersdemenz Leidenden pflegen?
Ihnen und vielen anderen Pflegebedürftigen ein glückliches oder auch nur menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, ist heute eine der grössten Herausforderungen Japans. Die rund 10 000 Mitglieder der Alzheimer-Gesellschaft arbeiten daran, mehr Information über und Verständnis für Demenzkrankheiten zu verbreiten und dadurch Betroffenen und ihren Familien die Angst davor zu nehmen. Angesichts der Bevölkerungsentwicklung ist das von grosser Dringlichkeit.
Viele aktive Alte
Denn während die Alterskohorten über 65 weiter wachsen, beschleunigt sich gleichzeitig der Rückgang der Gesamtbevölkerung. 2030 wird es 10 Millionen Japaner weniger geben als heute – einmal Belgien. Dabei geht die werktätige Bevölkerung am schnellsten zurück, von 68 Prozent im Jahre 2000 auf 60 Prozent 2020 und 53 Prozent bis zur Jahrhundertmitte. Der Anteil der über 65-Jährigen nimmt unterdessen von 25 Prozent auf 35 Prozent zu. Bisher markierte 65 wie in Westeuropa die Schwelle zum Alter, aber von dieser Definition rückt man langsam ab.
Herr Hinohara wäre nach der überkommenen Vorstellung vom Ruhestandsalter heute seit 35 Jahren Rentner, arbeitet aber noch immer. Als Person ist er exzeptionell, aber er verkörpert auch die Sonnenseite des wichtigsten Trends, der die japanische Gesellschaft gegenwärtig kennzeichnet. Der rührige Senior ist kein Exot; es gibt viele andere aktive Alte. Aber er steht mehr im Rampenlicht und wird bewundert, weil er die ihm gegebene genetischeausstattung optimal genutzt hat, um ein langes, gesundes und erfülltes Leben zu gestalten; mit Höhen und Tiefen, aber unterm Strich sicher ein gutes Leben. Das Zusammenwirken von Genetik und Umwelt, das unser Altern bestimmt, hat Hinohara optimiert.
Seine Ratschläge für ein Demenz freies Alter ziehen deshalb grosse Aufmerksamkeit auf sich; weniger bei seinen Altersgenossen als in der Generation ihrer Kinder; denn sie muss sich Sorgen über die im Alter zunehmenden pflegeintensiven Krankheiten machen. Sein eigenes erfolgreiches Altern verleiht seinen Ratschlägen Glaubwürdigkeit. Sie umfassen weder Zaubertrankrezepturen fürs ewige Leben noch strenge Diätvorschriften – dreimal die Woche Broccoli –, ganz zu schweigen von Antiageingprodukten, von denen er wie jeder Arzt weiss, dass sie ausser auf die Brieftasche des Patienten keinerlei Wirkung haben. Hinohara popularisiert im Wesentlichen allgemeine Erkenntnisse der Alternsforschung. Sie haben mehr mit Lebensstil als mit Pharmazie zu tun: früh aufstehen, genug schlafen, eine gewisse Regelmässigkeit der Lebensführung, körperliche Bewegung, massvolles Essen und Trinken, vielfältige geistige Tätigkeit und – ganz besonders wichtig – soziale Einbettung in private und berufliche Beziehungen; nicht viel also, was über den gesunden Menschenverstand hinausginge oder ihm widerspräche.
Allein, der gesunde Menschenverstand bzw. die Fähigkeit, ihm zu gehorchen, ist nicht jedem gegeben. Die phänomenale Bevölkerungsalterung bringt, was das betrifft, neue Anforderungen mit sich. Menschen, als Individuen und als Gruppen, sind nicht sehr gut darin, lange vorauszuplanen, denn bei einer Lebenserwartung, die noch in römischer Zeit durchschnittlich nur ungefähr 25 Jahre betrug, war für das Überleben immer das Hier und Jetzt von überragender Bedeutung, langfristige Voraussicht also kein wirklicher Evolutionsvorteil. Erst der Quantensprung der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert hat das geändert. Er hat weiten Kreisen der Bevölkerung praktisch über Nacht zusätzliche Jahrzehnte Lebenszeit beschert, mit denen sie noch nicht sinnvoll umzugehen gelernt haben. Den 30-Jährigen fällt es schwer, für ihren 100. Geburtstag zu planen, obwohl sie gute
Chancen haben, ihn zu erleben. Wenn wir uns sagen, dass im Kindergarten nebenan die erste Generation der 130-Jährigen heranwächst, ist das so abstrakt, dass daraus praktisch keine Konsequenzen gezogen werden. Die Menschen sparen zu wenig für ihr eigenes Alter, und der Staat verhält sich kaum anders. In Japan ist das sehr deutlich, wobei sich eine bedrohliche Schwäche der demokratischen Regierungsform zeigt. Obwohl Japan noch nie so reich war wie heute, sind die öffentlichen Kassen nicht nur leer, sondern im tiefsten Minus. Das Umlagesystem der Versorgung der alten, aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Bevölkerung funktioniert nicht mehr. Wenn das Renteneintrittsalter nicht drastisch
angehoben wird, müssen um die Mitte des Jahrhunderts 1,5 Arbeitnehmer einen Rentner unterhalten. Jeder weiss, dass die entstehenden Defizite in Renten- und Pflegekassen nur durch Steuererhöhungen auszugleichen sind. Für Politiker, die wiedergewählt werden wollen, ist das keine attraktive Option. Ein Zeithorizont von mehreren Jahrzehnten ist für sie ebenso uninteressant wie der eigene 100. Geburtstag für einen 30-Jährigen. Gründe, die gegen eine Steuererhöhung sprechen, gibt es immer, insbesondere wenn eine Wahl bevorsteht.
Obwohl die Bevölkerungsentwicklung recht zuverlässige langfristige Hochrechnungen zulässt, verhalten sich Körperschaften und Staaten kaum weitsichtiger als Individuen. Uns unser eigenes Leben in zwei oder drei Jahrzehnten vorzustellen, überfordert unsere Vorstellungskraft ebenso wie eine Gesellschaft, in der jeder Zweite über 60 ist. Wenn jedoch der 100-jährige Herr Hinohara öffentlich auftritt, Interviews gibt und über Fragen des Alltags spricht, dann wird es konkret, und wir können uns vorstellen, dass es uns betrifft; dass wir und nicht erst künftige Generationen den Standardlebenslauf neu planen müssen, da die Alterung im Rahmen der gegebenen Strukturen inzwischen für viele zu zwei Jahrzehnten Müssiggang am Ende geführt hat.
Bis zum Schluss aktiv bleiben
Heranwachsen, Lernen, Arbeiten, Ausruhen – diese vier Phasen stellen keine sinnvolle Einteilung mehr dar. Die Menschen in einer schrumpfenden und weiter alternden Gesellschaft länger arbeiten zu lassen, ist nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit; ausser bei den Gebrechlichen und Kranken wird das auch ihren Bedürfnissen gerecht. Hier liegt die eigentliche Bedeutung des lebenslangen Lernens. Es stellt keine Beschäftigungstherapie für die Alten dar, die sich sonst langweilen würden, sondern die Voraussetzung dafür, aktiv zu bleiben.
Nicht alle werden so alt werden wie Herr Hinohara und so lange wie er das Bedürfnis, die Fähigkeit und die Gelegenheit haben, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Die Zahl der
Pflegebedürftigen wird weiter zunehmen. Umso wichtiger ist es für all diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, durch aktive Beteiligung am Erwerbsleben oder an freiwilligen und
ehrenamtlichen Tätigkeiten das Potenzial auszuschöpfen, Die auf den Staat zukommenden Lasten nehmen überall zu. In vielen Industrieländern, Japan eingeschlossen, begegnet man diesem Trend dadurch, dem Einzelnen mehr Verantwortung für seine eigene Zukunftssicherung zu geben. Wer keinen alles beherrschenden Staat will, kann das nur begrüssen. Allein, bisher ist noch kein Modell entwickelt worden, in dem vermehrte Eigenverantwortung nicht zu einer Vergrösserung der Disparitäten in der Gesellschaft führt.
Es ist bekannt, dass sich Gesundheitsprobleme in Niedrigeinkommensschichten häufen und dass Einkommensunterschiede mit dem Alter zunehmen. Armut macht krank, und Krankheit macht arm.
Das bittere Diktum 'Weil du arm bist, musst du früher sterben' ist noch immer wahr, und weitere Lebenserwartungsgewinne werden daran, wenn alles so weitergeht wie bis anhin, nichts ändern. Was sich ändern muss, um der sozialen Ungleichheit der Gesundheit entgegenzuwirken, ist das Lernen, und zwar sowohl hinsichtlich der Inhalte als auch der Zeiteinteilung. Hierin liegt die eigentliche Bedeutung des lebenslangen Lernens in der alternden Gesellschaft, denn der bei weitem einflussreichste Faktor gesunden und erfolgreichen Alterns ist die Bildung: je höher das Bildungsniveau, desto höher das Einkommen und desto länger das behinderungsfreie Leben. Ungleichheit schlägt sich in der Gesundheit im Alter nieder: Nicht nur unter körperlichen Gebrechen leiden Rentner mit niedrigeren Einkommen häufiger als solche mit höheren Einkommen, sondern auch unter Altersdemenz sowie klinischer Depression, Schlafstörungen und anderen psychischen Leiden.
Wachstumsbranche
Lebenslanges Lernen ist deshalb eine Wachstumsbranche, an der der Staat grosses Interesse haben muss; denn auf lange Sicht trägt es dazu bei, die mit der Alterung unvermeidlich zunehmenden Gesundheitskosten in Grenzen zu halten und die Disparitäten in der Gesundheitsversorgung nicht weiter anwachsen zu lassen. Recht verstanden bedeutet lebenslanges Lernen nicht nur periodischeweiterbildung und (auch) Lernen im Alter, sondern schon als Kind fürs Alter zu lernen, um sich immer wieder aufs Neue die geistigen und sozialen Fähigkeiten aneignen zu können, die vonnöten sind, um den Anschluss an immer schneller sich vollziehende Entwicklungen nicht zu verpassen.
Herr Hinohara steuert seinen Teil dazu bei. 'Was ist das Leben?' heisst der Titel des Vortrags, den er demnächst in dem von ihm gegründeten Life Planning Center in Tokio halten wird – in einem Saal, der 800 Zuhörern Platz bietet.
21.Mai 2012 Neue Zürcher Zeitung
Florian Coulmas ist Direktor des Deutschen Instituts für JapanStudien in Tokio.
Zusammen mit Judith Stalpers hat er zuletzt den 2011 bei C. H. Beck erschienenen Band verfasst: 'Fukushima: Vom Erdbeben zur atomaren Katastrophe'.
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GREGOR LENGLER
Nur nicht zu beschaulich – auch im hohen Alter will der Geist trainiert sein.
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