Sich gesund ernähren – eine Frage von Quantität und Qualität
Des Menschen innigster Wunsch ist Gesundheit und Langlebigkeit, wobei viele insgeheim hoffen, dass dieser Wunsch ohne persönliche Anstrengung in Erfüllung geht. Es verwundert deshalb nicht, dass der Markt allerlei Wundermittel und Ernährungsprodukte mit meist nicht bewiesenen gesundheitsfördernden Wirkungen bereithält. Im Folgenden soll erläutert werden, worauf ein gesunder Erwachsener aus heutiger Sicht der Ernährungsmedizin beim Essen achten sollte.
Falsche Ernährung als Gesundheitsrisiko
Dazu muss man wissen, dass die drei Faktoren Rauchen, falsche Ernährung und mangelnde Bewegung den grössten Anteil an den vier wichtigsten chronischen Erkrankungen Übergewicht, Diabetes, Atherosklerose und Krebs erklären. Im Kampf dagegen werden oft Einzelmassnahmen empfohlen wie «Vitamin C schützt vor Krebs» oder «Selen macht Sie jung». Solche Ratschläge, die einzelne Nährstoffe in den Vordergrund stellen, sind «fokussierte Illusionen». Denn dabei wird einem Ernährungsfaktor ein physiologisch unmöglicher Gesundheitseffekt zugeschrieben.
Die auf dem derzeitigen Wissensstand basierenden Ernährungsempfehlungen sind in der sogenannten Ernährungspyramide dargestellt. Auf einen Blick ist so ersichtlich, dass Nahrungsmittel aus der Pyramidenbasis (z. B. Früchte und Gemüse) bevorzugt konsumiert, fett- und zuckerreiche Nahrungsmittel aus der Pyramidenspitze möglichst gemieden werden sollten. Eine zusammenfassende Empfehlung lautet oft: «Essen Sie nach der Pyramide und bewegen Sie sich täglich 30 Minuten!» Leider führen solche Tipps nur selten zum Erfolg. Das macht deutlich, dass auf dem Weg zu einer gesunden Ernährung einige Gefahren lauern.
So ist eine gesunde Ernährung in erster Linie ein Essmuster, das nicht nur der Quantität von Lebensmitteln, sondern auch deren Qualität und der (Ess-)Frequenz Rechnung trägt (QQF-Theorie). Natürlich wissen wir, wie schwierig es ist, sich täglich gesund zu ernähren. Deshalb raten wir unseren Patienten in der Sprechstunde, nach einem «junk food»-Tag einen Tag «am anderen Ende der Skala» einzulegen, das heisst mehrheitlich Früchte und Gemüse zu konsumieren, um am dritten Tag wieder «im Gleichgewicht» zu sein.
Noch immer werden vielerorts drei Hauptmahlzeiten und zwei bis drei Zwischenmahlzeiten empfohlen. Was für Kinder oder einen Velokurier sinnvoll ist, ist für die Mehrheit der Erwachsenen zu viel. Denn mit jeder Mahlzeit wird nicht nur Energie zugeführt, die komplexen biochemischen Veränderungen nach dem Essen (postprandiale Phase) sind auch ein Stressfaktor für den Körper. Denn diese Phase ist durch eine erhöhte Blutkonzentration an Glukose, verschiedenen Fetten, Insulin und anderen Hormonen charakterisiert – Faktoren, welche die Arterienverkalkung (Atherosklerose) begünstigen.
Dass sich heute ein Grossteil der Bevölkerung während bis zu 80 Prozent des Tages im postprandialen Zustand befindet, ist bedenklich. Korrigieren lässt sich dies beim Einzelnen am einfachsten durch eine Reduktion der Esshäufigkeit und der zugeführten Fett- und Kohlenhydratmengen sowie durch regelmässige Bewegung. Personen mit mehrheitlich sitzender Tätigkeit sollten maximal zwei bis drei Mal pro Tag essen. Empfehlenswert sind eine komplette Hauptmahlzeit und zwei kleinere Mahlzeiten wie das Frühstück oder ein kleines Mittagessen (z. B. Salat und eine Eiweissquelle). Gegen Zwischenmahlzeiten in Form von Früchten oder Gemüse ist nichts einzuwenden, solange die individuelle Energiebilanz nicht überschritten wird.
Denn trotz allen Fortschritten in der Erforschung des Stoffwechsels bleibt die Energiebilanz der wichtigste Faktor für das Körpergewicht. Sie entspricht der Differenz zwischen der Energiezufuhr und dem Energieverbrauch. In der Energiebilanz sind Kalorien aus Fett und Kohlenhydrat («Zucker») unabhängig von ihrer Herkunft als gleichwertig zu beurteilen. Eiweisskalorien fallen wegen ihrer günstigeren metabolischen Eigenschaften (grössere Wärmeproduktion, Bedeutung in der Appetitkontrolle und im Muskelstoffwechsel) in der Energiebilanz weniger stark ins Gewicht.
Eine positive Energiebilanz und der daraus resultierende Gewichtsanstieg ist stets auf eine zu hohe Energiezufuhr und/oder einen zu geringen Energieverbrauch zurückzuführen. Eine ausgewogene Energiebilanz ist für eine gesunde Ernährung zentral. Denn man weiss etwa, dass zwischen dem Körpergewicht und den kardiovaskulären Risikofaktoren (z. B. Bluthochdruck) eine praktisch lineare Beziehung besteht. Das heisst, es gibt kein Schwellengewicht, ab dem man erst «aufpassen» muss. Deshalb sollte auch mit dem Älterwerden jeder Gewichtsanstieg vermieden werden.
Um das Konzept der ausgeglichenen Energiebilanz im Alltag aber umsetzen zu können, muss man wissen, wie hoch der tägliche Energiebedarf ist und wie viel Energie man durch die Tätigkeiten im Alltag (z. B. Schlafen, Sitzen, Sport) verbrennt. Die Erfahrung zeigt, dass bei normalgewichtigen Personen der tägliche Energiebedarf in Ruhe relativ konstant ist. Er beträgt um 24 Kilokalorien (kcal) pro Kilogramm Körpergewicht. Eine 70 Kilogramm schwere Person hat also einen Ruhe-Energiebedarf von 1680 kcal. Bei leichter Aktivität (z. B. motorisierter Arbeitsweg, Bürtotätigkeit, kein Sport) liegt der tägliche Energiebedarf um einen Aktivitätsfaktor von 1,2 bis 1,4 höher – in unserem Beispiel also bei 2000 bis 2350 kcal pro Tag. So viel Energie sollte unsere Person täglich mit dem Essen zu sich nehmen. (Zum Vergleich: Bei einem Holzfäller beträgt der Aktivitätsfaktor etwa 2,2.)
Distanz wichtiger als Zeit
Der Aufwand, um über dem Bedarf zugeführte Kalorien durch Bewegung zu verbrennen, ist leider unverhältnismässig gross. Als Faustregel gilt: Pro Kilogramm Körpergewicht und zurückgelegten Kilometer werden – in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit – 0,5 bis 1 kcal (zusätzlich) verbrannt. Eine 70 Kilogramm schwere Person verbraucht also pro Kilometer Jogging zusätzlich etwa 70 kcal. Um ein Kilogramm Fettmasse zu verbrennen, wären 100 Kilometer nötig. Die einzige realistische Strategie für eine ausgewogene Energiebilanz und eine Stabilisierung des Körpergewichts heisst deshalb: weniger essen!
Empfehlungen zur körperlichen Aktivität sollten zudem stets Angaben zur Distanz und nicht zur Zeit enthalten. Denn die erwähnte «30-Minuten-Empfehlung» ist irreführend, da viele Personen in 30 Minuten nicht einmal 500 Meter zurücklegen können. Nur die Vorgabe der Strecke garantiert einen minimalen Effekt auf den Stoffwechsel. Normalgewichtige Personen sollten pro Tag mindestens eine Distanz von 3 bis 5 Kilometern zurücklegen, Übergewichtige entsprechend mehr.
Trotz der grossen Bedeutung einer ausgeglichenen Energiebilanz ist es für eine gesunde Ernährung nicht nötig, bei jedem Essen die Kalorien zu zählen. Die Erfahrung zeigt sogar, dass sich Kalorienzählen längerfristig eher kontraproduktiv auswirkt. In der Regel genügt es, die ungefähre Energiedichte der Nahrungsmittel zu kennen. Dazu muss man wissen, dass die Energiedichte eines Nahrungsmittels umso grösser ist, je mehr Fett es enthält. Denn der Energiegehalt von Fett (9 kcal/g) ist mehr als doppelt so hoch wie jener von Kohlenhydraten oder Eiweiss (4 kcal/g). Weil energiedichtere Nahrungsmittel pro zugeführte Kalorie ein geringeres Volumen haben und appetitfördernd wirken, führen sie leicht zu «passivem Überkonsum».
Die Energiedichte eines Nahrungsmittels ist auch von seinem Wassergehalt abhängig: Je höher der Wassergehalt, desto geringer die Energiedichte. Weil der Wassergehalt eines Nahrungsmittels besser abgeschätzt werden kann als sein Fettanteil, kann diese Information beim Zusammenstellen des Menuplans helfen. Produkte mit einem hohen Wassergehalt sind etwa rohe Früchte und Gemüse (Energiedichte 0,1 bis 0,5 kcal/g), solche mit einem geringen Wassergehalt Pommes Chips und Schokolade (zirka 5 kcal/g).
Das Problem mit dem Orangensaft
Die wichtigsten Energiequellen sind Fett und Kohlenhydrat («Zucker»), wobei Kohlenhydrat im Stoffwechsel bevorzugt wird. Deshalb kommt es bei gleichzeitigem Vorhandensein von Kohlenhydrat und Fett zur Unterdrückung der Fettverbrennung. Als Beispiel sei der Orangensaft am Morgen erwähnt. Aufgrund seines hohen Zuckergehalts (ca. 12 g/100 ml) führt sein Konsum zu einer raschen Verminderung der Fettverbrennung. Dieser Effekt ist am Morgen besonders ausgeprägt, da aus physiologischen Gründen in den Morgenstunden mehr Fett verbrannt wird als während des Tages.
Vorzuziehen sind deshalb kohlenhydrathaltige Lebensmittel, die zu einem langsameren und geringeren Anstieg der Blutzuckerkonzentration führen. In diesem Zusammenhang wird auch von einem tieferen glykämischen Index gesprochen. Der glykämische Index ist ein Mass für die Wirkung eines kohlenhydrathaltigen Lebensmittels auf den Blutzuckerspiegel. In dieser Hinsicht sind etwa grob gemahlene Vollkornprodukte besonders günstig. Sie sollten feiner gemahlenen Vollkorn- oder Weissmehl-Produkten vorgezogen werden. Aus dem gleichen Grund sollte auch möglichst wenig Rohrzucker (Saccharose) konsumiert werden. Dieser findet sich insbesondere in gesüsstem Mineralwasser, gezuckerten Milchdrinks oder Eistee, aber auch in gesüssten Joghurts.
Unerlässlich sind dagegen gewisse Aminosäuren. Acht lebensnotwendige solche Proteinbausteine (essenzielle Aminosäuren) müssen dem Körper zum Beispiel zugeführt werden, um die Muskelmasse aufzubauen. Zugleich müssen die Muskeln durch Krafttraining gedehnt werden. Dies ist vor allem mit dem Älterwerden wichtig, wenn normalerweise die Fettmasse zu- und die Muskelmasse abnimmt (zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr um 30 bis 40 Prozent). Weil in den Muskelzellen die meisten Stoffwechselvorgänge ablaufen, fördert diese Entwicklung die Entstehung von Krankheiten. Alle acht essenziellen Aminosäuren finden sich in tierischem Eiweiss (Fleisch, Geflügel, Fisch, Milch und Milchprodukte, Eier), aber auch in Sojäiweiss. Beim Konsum von pflanzlichen Eiweissquellen (z. B. Früchte, Getreide), denen gewisse Aminosäuren fehlen, ist der Konsum von Nahrungsmitteln mit sich ergänzenden Aminosäuren wichtig (z. B. Kombination von Bohnen mit Getreide).
Gesunder Mix
Am einfachsten können die essenziellen Aminosäuren mit magerem Fleisch, Fisch, Milch- oder Sojaprodukten zugeführt werden. Eine gute Strategie ist auch der Konsum eines Milchprodukts zu jeder Mahlzeit (z. B. Joghurt, Quark oder Hüttenkäse zum Salatteller). Eine vermehrte Eiweisszufuhr wirkt sich günstig auf die Appetitkontrolle aus.
Empfehlenswert ist schliesslich ein Menuplan, der reich an Früchten und Gemüsen ist. Dies verringert das Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten sowie das Krebsrisiko. Wie man weiss, beruht die günstige Wirkung von Früchten und Gemüsen auf der Kombination von verschiedenen Vitaminen, Mineralien, Spurenelementen und einer Reihe von sekundären Pflanzenstoffen (Phytochemikalien). Dieser gesunde Mix kann durch keinen Nährstoffzusatz ersetzt werden.
Wie viele Früchte und wie viel Gemüse wir essen sollten, ist allerdings noch unklar. Die pragmatische Empfehlung von täglich fünf Portionen («five a day»), wie sie derzeit zur Steigerung des Früchte- und Gemüsekonsums propagiert wird, ist ohne wissenschaftliche Untermauerung. Zudem scheint die «Fünf am Tag»-Empfehlung für die meisten Personen nicht umsetzbar, auch in mediterranen Ländern nicht. Wir empfehlen deshalb unseren Patienten primär die Verdoppelung ihres derzeitigen Früchte- und Gemüsekonsums. Dabei sollen Gemüse und Früchte mit einer intensiven Farbe bevorzugt werden, da sie meistens ein günstigeres Nährstoffprofil und mehr Phytochemikalien haben.
Eine gemüse- und früchtereiche Ernährung garantiert auch eine erhöhte Faserzufuhr (Ballaststoffe), was sich günstig auf die Darmtätigkeit, den Blutzucker- und Blutfettspiegel sowie auf den Blutdruck auswirkt. Letzteres hat auch damit zu tun, dass Gemüse und Früchte kaliumreich und natriumarm sind, was die Salzausscheidung in den Nieren fördert.
Auch den Bedarf an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen kann eine gesunde Person problemlos mit der täglichen Nahrung abdecken. Die einzige Ausnahme sind Frauen im gebärfähigen Alter, die zur Vermeidung von Neuralrohrdefekten beim Kind auf eine erhöhte Folsäurezufuhr in Form von Supplementen angewiesen sind. Die weitverbreitete Einnahme von Supplementen und die Anreicherung von immer mehr Nahrungsmitteln mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen kann für einzelne Personen sogar schädlich sein. So ist zum Beispiel eine zu hohe Vitamin-A-Zufuhr mit einem erhöhten Osteoporose- und Knochenbruchrisiko verbunden. Und auch ein Zuviel an Folsäure kann ausserhalb der Schwangerschaft problematisch sein. Nährstoff-Supplemente sind deshalb nicht Teil der Ernährung, sondern eine pharmakologische Therapie.
Paolo M. Suter
Medizinprofessor; Leitender Arzt an der Medizinischen Poliklinik des Universitätsspitals Zürich.
Der obige Artikel erschien im Mai 2008 in der NZZ, Zürich
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